Hannover/Leer. In einer ausschließlich politischen Stellungnahme hat Prälatin Anne Gidion im Namen der EKD in die Debatte des Deutschen Bundestages über die Anträge der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion zur Migrationspolitik eingegriffen. Nach meiner Kenntnis hat sie das getan, ohne durch Gremien der EKD hierfür legitimiert gewesen zu sein und ohne zuvor mit den Partei- oder Fraktionsspitzen von CDU und CSU Kontakt gesucht zu haben. Dieses Vorgehen kritisiere ich. Die Positionierung war zudem undifferenziert. Sie hatte einen für unsere Kirche unangemessen polarisierenden und verurteilenden Charakter.
Ich wünsche mir, dass sich unsere Kirche mit konstruktiven Beiträgen an der Diskussion beteiligt. Dabei muss sie Antworten auf die Fragen finden, warum Integration allzu oft scheitert und wie sie besser gelingen kann sowie ob und wie Migration nach Europa und Deutschland besser gesteuert werden sollte. Und sie muss sich auch der Frage stellen, wie mit Menschen, die zu uns geflüchtet sind und die hier ihre Mitmenschen an Gesundheit, Leib und Leben bedrohen, umgegangen werden soll. Gleichfalls muss sie sich damit beschäftigen, wie wir unsere Bevölkerung besser vor Gewalt schützen, die von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeübt wird und wie wir den Opfern solcher Gewalttaten begegnen können. Diese Frage halte ich übrigens nicht für diskriminierend. Denn unser Staat hat seiner eigenen Bevölkerung gegenüber eine Schutzpflicht zu erfüllen. Diese gilt nach innen wie nach außen.
Sowohl Einheimische als auch Flüchtlinge verdienen Empathie
Es gilt, diese Diskussion zu führen, ohne zu stigmatisieren, aber auch ohne die Probleme und Grenzen der Integration zu leugnen, die wir ja auch in unseren Kirchengemeinden erleben. Wir müssen dabei Empathie und Mitgefühl sowohl für die zu uns Geflüchteten als auch für die hier geborene und lebende Bevölkerung mit ihren Sorgen und Erfahrungen zeigen. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, dabei auf theologischer Basis Wege und Grenzen des Miteinanders im gegenseitigen Respekt für die unterschiedlichen Sichtweisen aufzuzeigen. Viele der Beiträge der vergangenen Tage wurden dem leider nicht gerecht, sondern begrenzten sich auf eine Empörungsrhetorik, die wenig zielführend war und möglicherweise nur der eigenen Selbstvergewisserung diente.
Die Migrationsbewegungen überfordern das Rechtssystem
Die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre haben den Rahmen, der durch internationales Recht, europäische Verträge sowie unsere grundgesetzlichen Regeln und nationales Recht gesetzt wurde, verlassen. Die fehlende Steuerung ist Basis des Geschäftsmodells von Menschenhändlern und Schlepperbanden, die unter Ausbeutung der Flüchtlinge und ihrer Familien die Lücken und Fehler des Systems nutzen, um Menschen unter schlimmsten, lebensbedrohlichen Umständen nach Europa und insbesondere nach Deutschland zu bringen. Auf derselben Basis und in Kooperation mit diesen Organisationen nutzt das Putin-Regime unser System für eine Form der hybriden Kriegführung, indem es Flüchtlinge ohne Rechtsanspruch auf Asyl über die innereuropäischen Grenzen in die EU schleust.
Die Systeme zur Integration sind überlastet
Das Ergebnis ist eine Überlastung der Systeme. Damit sind nicht zuvörderst die finanziellen Folgen gemeint. Vielmehr fehlt es an Wohnraum, Kapazitäten in Sprachkursen, Schulen und Verwaltungen. Traumatisierte Flüchtlinge haben kaum eine Chance auf eine psychologische Behandlung. Integrationshelfer kommen an ihre Grenzen. Uns gelingt zwar eine Aufnahme der Flüchtlinge. Die Bedingungen für eine erfolgreiche Integration sind jedoch in vielfältiger Hinsicht nicht gegeben. Im Ergebnis müssen wir dem Aufwachsen von Parallelgesellschaften in unserem Land fast tatenlos zusehen. Die Bilder jubelnder Antisemiten am 7. Oktober 2023 in unseren Städten waren ein Ausdruck dieser Entwicklung. Die Kommunen äußern inzwischen deutlich, dass ihre Möglichkeiten der Integrationsarbeit und Aufnahme erreicht und überschritten sind. Aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, die sich mit viel Engagement und haupt- wie ehrenamtlichem Einsatz in die Integrationsarbeit einbringen – auch in unserer Kirche – ist ebenfalls zunehmend von Überlastungen und systematischer Überforderung zu hören. Es ist bisher nicht gelungen, diese Situation zu ändern. Dies hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit ihren Anträgen angesprochen und Maßnahmen aufgezeigt, um die Situation zu verbessern. In gleicher oder ähnlicher Weise haben sich in der jüngeren Vergangenheit übrigens auch die Ministerpräsidentenkonferenz und verschiedene Bundesländer positioniert.
Parteien der demokratischen Mitte dürfen nicht sprachlos sein
Der Unmut und die Sorge in weiten Teilen der Bevölkerung steigen, wie ich nicht nur aus vielen Bürgergesprächen erfahre, sondern auch der Demoskopie entnehme. Aus meiner Sicht ist darin ein wesentlicher Grund zu suchen, warum radikale Kräfte viel zu viel Zulauf erfahren. Dies zu ignorieren oder sich auf wohlfeile Mahnungen aus dem moralischen Elfenbeinturm zu beschränken, wird der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaft nicht entgegenwirken. Die immer wieder verlautbarte Forderung, ausgerechnet dieses Thema aus einem Wahlkampf herauszuhalten, ist naiv und offenbart ein bemerkenswertes Demokratieverständnis. Die radikalen Kräfte in unserem Land würden diese Sprachlosigkeit der Parteien der demokratischen Mitte zu einem für viele Menschen sehr relevanten Problemfeld zu nutzen wissen. Daher ist es nicht nur legitim, es ist sogar notwendig, in diesem Wahlkampf und in der parlamentarischen Auseinandersetzung Konzepte für eine bessere Steuerung der Migration und für bessere Gelingensbedingungen der Integration zu diskutieren.
Das Parlament ist der richtige Ort für diese Debatte
Zur Kenntnis genommen habe ich unter anderem die Kritik auch von Vertretern der Kirchen daran, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion entschieden hat, diese Diskussion auf der Basis von Anträgen und Gesetzentwürfen im Parlament zu führen. Spätestens diese Kritik hinterlässt erhebliche Zweifel am Verständnis der Aufgaben und Funktionsweise unserer parlamentarischen Demokratie. Wo denn sonst muss diese Debatte geführt werden, wenn nicht in der Herzkammer der Demokratie – in unseren Parlamenten. Wo denn sonst müssen diese Fragen gelöst werden, wenn nicht im Deutschen Bundestag. Auf den Marktplätzen der Republik jedenfalls werden die Herausforderungen unseres Landes nicht gelöst. Das Parlament ist der richtige Ort für diese Debatte. Auch wenn es dort durch das Auseinanderbrechen der bisherigen Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP aktuell keine klaren Mehrheiten gibt, ist und bleibt das Parlament der Ort der ersten Wahl für die politische Debatte und die Lösung der Herausforderungen unseres Landes. Für das Bemühen meiner Partei, diesen Weg zu gehen, hätte ich mindestens Verständnis seitens meiner Kirche erwartet. Über die Kritik an dem parlamentarischen Weg der Debatte bin ich sehr irritiert.
Keine Zusammenarbeit mit der AfD
Hat die Unionsfraktion von in der vergangenen Plenarwoche mit radikalen Parteien zusammengearbeitet? Nein. Sie hat ihre Position in Form von Anträgen zur Diskussion und Abstimmung gestellt. So wie es die Regeln des Parlaments vorsehen. Sie hat sich dazu ausschließlich mit den demokratischen Fraktionen besprochen. Die Anträge waren in einer Weise formuliert, dass die AfD nur in einem Akt der völligen Selbstverleugnung zustimmen konnte. Den anderen demokratischen Parteien ist es leider weder gelungen Änderungsanträge zu formulieren, noch eigene Anträge einzubringen, die es ermöglicht hätten, parlamentarisch zu ringen und Kompromisse zu finden. Sie verlangten allerdings von der Union, ihre Anträge zurückzuziehen und verbanden dies mit dem falschen Vorwurf, CDU und CSU würden ansonsten eine rote Linie in der Zusammenarbeit mit der AfD überschreiten. Diese destruktive Haltung offenbarte nicht nur ein überraschendes Maß an Handlungsunfähigkeit, sondern stellte zugleich auch die parlamentarischen Regeln auf den Kopf. Dass genau diese Vorgehensweise der Fraktionen von SPD und Grünen dann von führenden Vertretern meiner Kirche öffentlich sekundiert wurde, halte ich für nicht nachvollziehbar und im höchsten Maße problematisch.
Die aktuellen Einlassungen werden dem Anspruch, den unsere Kirchenmitglieder an ihre Kirchenführung haben müssen, meines Erachtens nicht gerecht. Sie leisten vor allem eher einen Beitrag dazu, unversöhnliche Haltungen zu verstärken als zu versöhnen. Diese Parteinahme tut der gesellschaftlichen Debatte, aber auch dem Dialog zwischen CDU/CSU und den evangelischen Kirchen nicht gut.